Im letzten Jagdjahr – also von April 2009 bis März 2010 wurden laut Mitteilung des Deutschen Jagdschutzverbandes bei uns in Deutschland um etwa ein Drittel weniger Wildschweine erlegt als im Jagdjahr zuvor. Das bedeutet aber weder, dass etwa die Jäger faul oder gar zu tierlieb geworden wären, noch, dass etwa das Wildschwein bei uns nun vom Aussterben bedroht wäre.
Ein recht ordentlicher Keiler: Wildschweine gibt es in Deutschland schon immer, aber erst in den letzten Jahrzehnten sind sie wieder ein häufiges Wild geworden
Streckenzahlen: Anhaltspunkt für die Beurteilung der Bestandsentwicklung
Streckenzahlen, also die Anzahlen der jeweils in einem bestimmten Zeitraum erlegten Tiere, geben gewisse Anhaltspunkte für die Schätzung der Bestandsgröße, vor allem aber ihrer Entwicklung. Könnte man davon ausgehen, dass die Jäger immer gleich fleißig jagen und dabei immer gleich schlau vorgehen, müssten sich die Streckenzahlen proportional zu den Beständen entwickeln. Das ist in der Praxis jedoch nicht unbedingt der Fall. Man kann sich leicht vorstellen, dass bei geringen Beständen und daher geringen Erfolgschancen die Lust an der Jagd sinkt und bei großen Beständen und daher besseren Chancen auf Waidmannsheil sich jeden Abend mehr Jäger entschließen, auf den Ansitz zu gehen. Außerdem machen besonders beim Wildschwein, das teure Schäden verursacht bei großen Beständen und entsprechend hohen Schäden die Jagdpächter mehr Jagddruck in dem sie öfter zu gemeinsamen Ansitzen und Drückjagden einladen als wenn es beim Schwarzwild sehr ruhig ist. Zu solchen Jagden kommen dann natürlich auch Jäger die sonst keine Schweine schießen, weil sie in ihrem eigenen Revier keine haben.
Es ist also anzunehmen, dass die Strecken die Bestandsentwicklungen ein wenig überzeichnet wiedergeben. Außerdem spielen natürlich auch andere Faktoren eine gewisse Rolle: Wenn günstiges Wetter für die Jagd herrscht, wird sicherlich mehr und erfolgreicher gejagt als bei ungünstigem Wetter. Insgesamt kann man jedoch aus der Streckenentwicklung durchaus recht zutreffende Aussagen über die Bestandsentwicklung machen.
Auf jeden Fall zeigen anhaltend hohe Streckenzahlen an, dass es von der entsprechenden Wildart einen großen Bestand geben muss und nicht etwa, dass man dabei wäre, diese Wildart auszurotten wie manche meinen. Wenn man über längere Zeit jedes Jahr gleichviel schießen kann, zeigt das an, dass man nur die „Zinsen“ seines Bestandes abschöpft und das „Kapital“ nicht angreift. Würde man das nämlich tun, also durch das Schießen den Bestand verringern, könnte man auf die Länge immer weniger erlegen – und zum Schluss fast gar nichts mehr, wenn man den Bestand soweit gesenkt hat, dass man „nichts mehr sieht“. Durch Jagd ganz ausrotten kann man nämlich bis auf wenige Ausnahmen keine Tierart: Je mehr der Bestand sinkt, umso geringer wird auch die Chance auf Waidmannsheil. Irgendwann wird es so schwer, ein Stück zu erwischen, dass sich Abschuss und Nachwuchs die Waage halten.
Das Beutetier reguliert den Jäger
Wenn der Jäger nun ein Beutegreifer ist, geht natürlich seine Bestand durch Nahrungsmangel ebenfalls zurück, bis er sich mit dem seiner Beute die Waage hält. In gewisser Weise gilt das auch für menschliche Jäger, denn die verlieren die Lust am Jagen, wenn der Erfolg zu gering wird, hängen Schießeisen und Jägerhut an den Nagel oder gehen woanders auf die Jagd. Tatsächlich ist es so, dass das Beutetier den Jäger reguliert und nicht umgekehrt wie viele Laien meinen.
Beim Wildschwein ist es nun so, dass dessen Bestände auch ohne Jagd stark schwanken können. Daran, dass es beim Schwarzwild jedesmal viel Nachwuchs gibt, sieht man, dass der einzelne Frischling von Natur aus eine geringe Überlebenschance hat. Eine große Anzahl Nachkommen bei einer Tierart, ist ja die Strategie der Natur gegen eine hohe artspezifische „Kindersterblichkeit“. Arten, deren Nachwuchs eine größere Chance hat, bis zur Fortpflanzung zu kommen, haben entsprechend weniger Junge. Eine Rehgeiß etwa hat gute Chancen, ihre meist zwei Kitze durchzubringen, wenn man sie ihr nicht wegschießt.
Wildschweine werden auf Bildern zwar gerne, so wie hier auch, in winterlicher Umgebung gezeigt, sind aber eher Wärme liebende Tiere
Je größer die Sterblichkeit des Nachwuchses und je größer daher die Anzahl der Jungen, die geboren werden ist, umso stärker reagieren die Bestände einer Tierart auf Umweltbedingungen. Wenn diese, wie das für das Wildschwein in der letzten Zeit oft der Fall war, gut sind, kann es passieren, dass in einem Jahr kaum Frischlinge eingehen. In diesem Fall hat man dann auf im Jahr drauf sehr viele Überläufer, also Schweine „im Teenageralter“. Sind die Bedingungen in einem Jahr schlecht, kann es aber auch passieren, dass fast alle Frischlinge umkommen. Dann fällt praktisch ein ganzer Jahrgang aus. Da Wildschweine nun in freier Wildbahn nicht übermäßig alt werden, besteht ein Bestand im Wesentlichen aus nur wenigen Jahrgängen, so dass ein einzelner, extrem schwacher oder sehr starker Jahrgang sich deutlich auf die Bestandsgröße auswirken kann.
Anders ist das bei Wildarten, die wenig Junge werfen, bei denen diese aber sehr gute Chancen haben, erwachsen zu werden: Auch in extrem günstigen Jahren können natürlich nicht mehr Junge überleben als überhaupt gesetzt wurden. Umgekehrt kommen die Jungen auch in schlechten Jahren mit guter Wahrscheinlichkeit durch, eben auch aus diesem Grund benötigt eine solche Art ja nur wenige Nachkommen, um erhalten zu bleiben.
Wildschweine suchen ihre Nahrung großenteils im Boden. Wenn im Spätwinter und zeitigem Frühjahr herumliegende Bucheln und Eicheln aufgebraucht sind, der Boden aber noch gefroren, ist Schmalhans Küchenmeister im Hause Schwarzkittel
Dieser Sachverhalt spiegelt sich übrigens auch in den Zeiten wieder, zu denen kluge Jäger Eingriffe zur Bestandsregulierung vornehmen: Will man seine Rehe dezimieren, kann man schon im Herbst starke weibliche Kitze schießen, die den Winter mit hoher Wahrscheinlichkeit überleben würden und hat nebenbei eine gute Ausbeute an Wildbret als Lohn für seine Hegebemühungen. Wer um diese Zeit nicht genug erwischt, kann zwar im Frühjahr mit dem Aufgang der Bockjagd auch Schmalrehe schießen, Das ist aber eigentlich nur ein Notnagel, denn mit dem Wildbret wird es dann nicht so weit her sein.
Ein kräftiger, gesunder Frischling hingegen, den man im Herbst schießt, erhöht die Überlebenschance der anderen, weil er als Konkurrent um die Nahrung ausfällt und wird sich kaum auf den Frühjahrsbestand auswirken. Schießt man gar ein schwaches, kränkliches Exemplar, nimmt man höchstwahrscheinlich lediglich dessen Tod im Winter oder zeitigen Frühjahr vorweg. Das Pulver und Blei für die Dezimierung wäre zumindest theoretisch also im Frühjahr besser angelegt, wenn man damit den überlebenden Rest des Nachwuchses noch weiter ausdünnt. Tatsächlich darf man Frischlinge und Überläufer auch das ganze Jahr schießen, so dass man bei Bestandsregulierungen im Frühjahr nicht mit dem Jagdgesetz in Konflikt gerät.
In der Praxis sind Wildschweine allerdings schwer zu bekommen, so dass man Frischlinge und Überläufer - soweit sie nicht schon selbst Nachwuchs führen und daher unter dem Schutz des Jagdgesetzes stehen - am besten grundsätzlich schießt, wenn sie einem vor die Büchse kommen.
Hier liegt übrigens auch der Grund dafür, dass mehr männliche als weibliche Wildschweine geschossen werden, obwohl das Gegenteil sinnvoll wäre, da man ja dezimieren will: Wenn man aus einer Gruppe gleichgroßer Wildschweine eines herausschießt, kann man sich relativ sicher sein, keine führende Bache zu erwischen. Das wird daher auch oft gemacht und auf der Strecke liegt dann ein Überläuferkeiler, denn bei den Rotten gleichgroßer Sauen handelt es sich um solche. Die werden mit der Geschlechstreife von der mütterlichen Rotte verjagt und bilden dann "Jugendbanden", bis sie als richtige erwachsene Keiler jeweils ihre eigenen Wege gehen. Die Überläuferbachen hingegen bleiben bei der Rotte ihrer Mütter, so das diese immer aus verschieden großen Schweinen, nämlich Überläufer- und alten Bachen sowie Frischlingen bestehen.
Folge der Arterhaltungs-Strategie: Starke oder schwache Schwankungen
Je nachdem, welcher Strategie eine Art nun folgt, wird ihr Bestand also unterschiedlich um einen gedachten Mittelwert schwanken: stärker bei Arten, die viele Junge mit geringen Überlebenschancen haben, weniger stark bei solchen, die wenig Junge mit dafür recht hohen Überlebenschancen bringen.
Eine Rolle spielt dabei natürlich auch die durchschnittliche Lebenserwartung: Ein extremes Beispiel etwa wären Mäuse, die rein biologisch kaum älter werden können als zwei Jahre. Da in Freiheit kaum ein Tier an Altersschwäche stirbt, bestehen Mäusepopulationen logischerweise größtenteils aus Tieren eines Jahrganges. Wenn die Bedingungen schlecht sind, gibt es daher sehr schnell nur noch wenig Mäuse. Gleichzeitig können sich Mäuse aber unter guten Bedingungen quasi explosionsartig vermehren, so dass sich „gute“ und „schlechte“ Mäusejahre noch stärker unterscheiden können als gute und schlechte Wildschweinjahre.
Insgesamt lässt sich also sagen, dass Bestände von Tierarten, die bei der Arterhaltung auf die Anzahl der Jungen und nicht auf die Überlebenschancen des einzelnen setzen, leichter (scheinbar) zusammenbrechen können, sich aber auch schneller wieder erholen. Gefährlich wird es erst, wenn eine bestimmte Mindestpopulation unterschritten wird. Das passiert aber, wie bereits erwähnt, kaum jemals durch die Jagd. Wenn Populationen einer bestimmten Art verschwinden oder bedroht sind, liegt das in aller Regel daran, dass der jeweilige Lebensraum durch den Menschen zum Nachteil der jeweiligen Art verändert wurde.
Umwelteinflüsse
Umgekehrt kann der Mensch natürlich auch Lebensräume so verändern, dass dies Vorteile für eine Art bringt. Genau das hat man beim Wildschwein „versehentlich“ getan. Durch die heute übliche intensive und ertragreiche Landwirtschaft, besonders durch die großen Maisäcker, hat sich die Nahrungsbasis für das Schwarzwild stark verbreitert. Auf ein gutes Nahrungsangebot reagiert aber praktisch jede Art mit Vermehrung, solange die anderen Bedingungen passen. Und für das Wildschwein passen sie meistens.
Wildschweine haben relativ viel Nachwuchs, weil die Natur hier recht viel Ausfälle einkalkuliert. Sind die Bedingungen günstig, so dass viele Frischlinge überleben, können die Bestände daher schnell kräftig anwachsen
Es ist nun so, dass zwar der einzelne Frischling recht schlechte Karten im Spiel um das Überleben hat, das Wildschwein als Art aber ein wahrer Überlebenskünstler ist. Das sieht man schon daran, wo heutzutage überall Schwarzwild auftaucht und sich auch halten kann. Außer Nahrungsmangel hat das Schwarze Schwein nur einen wirklichen Feind und das ist die Kälte. Es kommt fast überall zurecht, so lange es genug zu fressen hat und es nicht zu kalt ist. Ein strenger Winter jedoch kann auch eine große und kerngesunde, ansonsten stark wachsende Population erheblich einbrechen lassen.
Das war zum Beispiel im strengen Winter 2005/2006 der Fall. Ein deutlicher Beleg dafür, dass es tatsächlich die Kälte war, welche die Schwarzwildbestände einbrechen ließ, fand sich damals im Südschwarzwald: Da dieser sehr steil zur Oberrheinischen Tiefebene abfällt, gibt es hier kurze Rettungswege in tiefere und damit mildere Lagen. Tatsächlich litten seinerzeit die Schwarzwildbestände dort kaum oder gar nicht, weil das Schwarzwild der Kälte ausweichen konnte.
Insgesamt lässt sich also sagen, dass der Streckenrückgang beim Schwarzwild wenig Bedeutung hat, sieht man einmal davon ab, dass man natürlich weniger oft Waidmannsheil aufs Schwarze Schein hat und seltener leckeren Wildschweinbraten essen kann, wenn weniger Schwarzwild auf der Strecke liegt. Weder kann hinsichtlich des Schwarzwildproblems in der Landwirtschaft Entwarnung gegeben werden noch braucht man gar zu fürchten, dass uns unser urigstes und bodenständigstes Wildtier, das Wildschwein ausstirbt.