Seit dem die stark wachsenden Wildschwein-Populationen zu einem Problem geworden sind, geistert die Mär vom durch den Jäger verursachten Rauschzeit-Chaos durch die Diskussionen über Sinn und Unsinn der Jagd. Bei näherem Hinsehen hält diese Geschichte einer Überprüfung anhand logischer Zusammenhänge jedoch nicht stand. Da ich erst neulich wieder einmal auf einen Text gestoßen bin, der uns Jäger als praktisch allein verantwortlich für die vielen Schwarzkittel macht, sind hier wohl ein paar fundierte Gedanken angebracht.
Bache mit Frischlingen: Nett anzusehen, aber...
Einer der perfidesten Aspekte politisch korrekter Sprachregelungen ist, dass auch diejenigen gezwungen werden, sie einzuhalten, gegen die sie sich richten. So ist es auch mit der Mär vom Jäger, der die rapide Zunahme der Schwarzwildbestände durch sein Tun verursachen soll. Leitbachen, so wird behauptet, synchronisieren das Rauschigwerden der rangniedrigeren Bachen und sorgen dafür, dass diese nicht zur Unzeit rauschig werden. Fällt eine solche Leitbache dann durch das frevle Tun eines allzu schussgeilen Waidgesellen aus, würden die restlichen Bachen zu allen möglichen und unmöglichen Zeiten rauschig, hätten dann dementsprechend auch zu allen Jahreszeiten Frischlinge.
Diese Geschichte wird nun nicht nur durch Jagdgegner und Jagdkritiker kolportiert, sondern auch durch engagierte Jäger, denen es tatsächlich um unseren jagdgesetzlichen Auftrag zu tun ist, die Wildbestände in solchen Grenzen zu halten, dass ein ordnungsgemäßer Land- und Waldbau möglich ist. Man erzählt sie wohl sogar bereits den Aspiranten im Jägerkurs und die Bereitschaft, sie zu hinterfragen scheint – zumindest in der Öffentlichkeit – gering zu sein, auch bei Jägern. Offiziellen Jagd-Funktionären mag es gar bei Strafe des medialen Teeren und Federns verboten sein, hier einmal laut nachzudenken.
Offensichtlichen Tatsachen im toten Winkel
Schöne Theorien haben oft eines an sich: Sie sind griffig und wenn sie zu Ergebnissen führen, die einem sympathisch sind, fällt nicht mehr auf, dass die Krone des gedanklichen Baums längst über dessen Wurzeln hinaus gewachsen ist. Sprich: Man hat Scheuklappen aufgesetzt und grundlegende Tatsachen sind in deren totem Winkel verschwunden; man merkt nicht mehr, dass das wunderschöne Gedankengebäude schon lange nicht mehr auf dem Fundament der harten, von jedermann nachprüfbaren Fakten steht.
... die Schäden, die Schwarzwild in Mais....
Das kann selbst großen Wissenschaftlern passieren: Linné beispielsweise war der Meinung, dass jedes Tier – auch unsere Haustiere – so wie man sie heute kennt (bzw. zu seiner Zeit kannte) von Gott erschaffen worden seien. Dabei hätte ihm ein Spaziergang auf dem Land und eventuell ein paar Gespräche mit Bauern leicht zeigen können, dass sogar der Mensch in der Lage ist, das Erscheinungsbild von Tieren durch Zucht stark zu verändern und sogar ganz neue Rassen zu schaffen. Und dass es also auch nahe liegend ist, dass Haustiere aus Wildtieren entstanden sind – zumal vermutlich zu Linnés Zeiten noch mehr Haustierrassen ihren Wildformen ähnelten als das heute der Fall ist.
Die Rolle von Biotop und Nahrungsbasis
Die Tatsache, die bei der tollen Theorie des Rauschzeit-Chaos aus den Augen verloren wurde, ist die, dass eine Populationsstärke immer Funktion der Biotopqualität, insbesondere auch der Breite der Nahrungsbasis ist. Weniger geschwollen ausgedrückt: Wenn es viel zu fressen gibt, gibt es mehr Nachwuchs, der auch noch bessere Überlebenschancen hat. Oder noch einmal anders gesagt: Eine Population vermehrt sich solange, bis sie an eine Ressourcengrenze stößt.
... und Weizen anrichtet, können immens sein und treiben gestandenen Landmännern das Wasser in die Augen
Im speziellen Falle des Wildschweins und seinem derzeitigen Höhenflug kommt noch ein weiterer, offenkundiger Aspekt hinzu. In milden Wintern zur Unzeit geborene Frischlinge sterben weniger oft als solche, die in harten Wintern geboren werden. Es ist, auch wenn ich persönlich die menschengemachte Klimaerwärmung für Humbug halte, nun aber eben eine Tatsache, dass es in den letzten dreißig Jahren wärmer war als früher. Es gab jede Menge Winter, die keine waren, in denen zur Unzeit geborene Frischlinge also wesentlich bessere Überlebenschancen hatten.
Diese Zeit der milden Winter deckt sich nun aber recht gut mit dem Anwachsen der Schwarzwildbestände. Der harte Winter 2005/06, der die Wildschwein bei uns erheblich dezimierte ist ein gutes Beispiel, wie sich ein Winter, der einer ist, auf das Schwarzwild auswirkt, was in einem milden Winter eben nicht passiert. Dazu kommt, dass schon seit längerer Zeit Mastjahre wesentlich kürzer aufeinander folgen als das früher der Fall war. Dieses erhöhte Nahrungsangebot ist nun aber obendrein in milden Wintern ohne oder mit wenig und kurzer Schneelage wesentlich leichter zu erreichen. Das gleiche gilt für die Untermast. Und ein besseres, leichter zugängliches Nahrungsangebot kommt natürlich vor allem auch den bereits selbst fressenden Frischlingen zu gute, genauso wie den führenden Bachen, deren Nachwuchs noch saugt. Wärmere Außentemperaturen schließlich senken den Energiebedarf, was auch wieder vor allem auf Jungtiere wirkt, da diese aufgrund ihres geringeren Volumens leichter auskühlen als adulte Exemplare.
Einmal logisch nachgedacht
Machen wir also doch einfach ein kleines Gedankenexperiment: Angenommen, es stimmt tatsächlich, dass die Leitbache das Rauschigwerden der rangniedrigeren Bachen steuert. Jetzt kommt so ein skrupelloses Monster in Grün und schießt die Dame von ihren Lieben weg. Sofort bricht das Rauschzeit-Chaos aus, alle Bachen werden zur Unzeit rauschig und sind zu allen möglichen und unmöglichen Jahreszeiten mit Frischlingen jeglichen Alters anzutreffen.
Jüngere Keiler sind wesentlich einfacher zu erlegen als...
Die zur Unzeit geborenen Frischlinge können aber in harten Wintern nicht überleben, sondern nur, wenn besonders günstige Verhältnisse wie die oben beschriebenen herrschen. Andernfalls wird durch das Rauschzeit-Chaos der Fortpflanzungserfolg erheblich geschmälert - was natürlich das Gegenteil einer Bestandsvermehrung bewirkt.
Denken wir also weiter: Auch bei einer funktionierenden Synchronisation der Rauschzeit wird es immer wieder einmal Bachen geben, die zur Unzeit rauschig werden und daher Frischlinge zu Jahreszeiten bringen, die für deren Überleben ungünstig sind. Das ist übrigens schon deswegen nahe liegend, weil Schweine an sich tropische Tiere sind. Unser Wildschwein ist die einzige Schweineart, die in verhältnismäßig kalten Gegenden mit ausgeprägtem Sommer-Winter-Wechsel lebt. Daher ist es durchaus denkbar, dass bei unseren Schwarzkitteln der zu unsere Weltgegend passende Rauschzeit-Zyklus genetisch gar nicht so fest verankert ist.
... junge Bachen, welche als angehende Zuwachsträger das Ziel eines wirkungsvollen Reduktionsabschusses sein müssen
Zurück zu den unzeitig geborenen Frischlingen: So ein schlechter Start ist ein erhebliches Handicap im großen Spiel der Evolution. Von diesen Frischlingen gelangen erheblich weniger zur Fortpflanzung; die Rauschigkeit zur falschen Zeit ist ein erheblicher Überlebensnachteil. Und wer einen solchen hat, wird von der Evolution gnadenlos ausgemerzt.
Überleben solche Frischlinge aber dennoch massenhaft und gelangen sogar zur Fortpflanzung, liegt dies daran, dass ganz einfach die Winter nicht so streng sind, dass sie den typischen Fortpflanzungsrythmus erfordern, den man bei uns auch von anderen Tieren kennt und der zum Ziel hat, dass der Nachwuchs immer zu dem Zeitpunkt geboren wird, der es ihm ermöglicht, die warme Jahreszeit optimal auszunutzen. Vermutlich hat unser Schwarzwild ja auch seinen typischen Rauschzeitrythmus entwickelt, um in Gegenden mit kalten Wintern überleben zu können.
Vorteile werden nicht über Bord geworfen
Grundsätzlich werden im Rahmen der Evolution immer Dinge entwickelt, welche einen Überlebensvorteil für die Art bzw. Population bieten. Logischerweise müsste dann das Wegfallen eines solchen Mechanismus wie der Fortpflanzung im Rhythmus der Jahreszeiten einen Überlebensnachteil bedeuten. Ist das jedoch nicht der Fall, ist dieser Rhythmus nicht mehr notwendig – wie zum Beispiel im Falle des Wildschweins, das in wärmerem Klima ohne weiteres auch zur „falschen“ Jahreszeit geborene Frischlinge durchbringt.
Strecke einer sommerlichen Maisdrückjagd: (Waid)mensch bemüht sich ja im Feld...
Dass immer auch Bachen existieren müssen, die zur Unzeit rauschig werden, ist im Übrigen mehr als nur wahrscheinlich: Die Evolution lebt im Prinzip von den genetischen Ausreißern. Diese kommen immer wieder einmal vor, werden aber meisten ausgemerzt, weil sie unter den herrschenden Umständen einen Überlebensnachteil haben. Nun kann es aber passieren, dass sich die Umstände ändern und etwas, das vorher ein Nachteil war, zu einem Vorteil wird. Dann überleben die Ausreißer und vererben das geänderte Gen. So funktioniert Evolution.
Und so funktioniert auch das so genannte Rauschzeit-Chaos: Laut seinen Fans soll es ja für die überaus starke Vermehrung der Schwarzwildbestände verantwortlich sein. Starke Vermehrung weist aber nicht auf einen evolutionären Nachteil hin, sondern auf eine Vorteil. Schließlich muss man aber auch noch im Hinterkopf behalten, dass die Fortpflanzung zu einer anderen Jahreszeit nicht unbedingt auch bedeutet, dass sich öfter fortgepflanzt wird: Wenn man im Frühjahr, Sommer, Herbst und Winter gestreifte Frischlinge sieht, heißt das ja nicht, dass jede Bache jetzt viermal im Jahr Junge bringt. Wesentlich öfter als einmal im Jahr werden auch zur Unzeit rauschende Bachen keine Frischlinge haben.
... und auch im Wald, aber mildes Klima sorgt in Verbindung...
Auch wenn so das im Herbst oder Winter geboren Werden in mildem Klima kein Todesurteil für den einzelnen Frischling ist, ein Vorteil ist es sicher auch nicht. Wenn nun aber die Bestände wachsen, trotz dem ein Teil der Frischlinge nicht zum optimalen Zeitpunkt geboren werden, heißt dies wieder einmal: Die Lebensbedingungen müssen dahinter stecken. Denkbar ist sogar, dass es bei fehlenden oder wenig ausgeprägten Nahrungsengpässen und anderen ökologischen Flaschenhälsen ein Nachteil ist, sich gleichzeitig fortzupflanzen: Wenn alle Jungen zur gleichen Zeit, nämlich der des größten Nahrungsangebotes geboren werden, ist auch die Konkurrenz groß. Wenn es nun zu anderen Jahreszeiten zwar weniger, aber nicht zu wenig gibt und auch die Temperaturen ein Überleben ermöglichen, kann es ein Vorteil sein, auf diese auszuweichen.
Occams Rasiermesser
Es gibt in der Wissenschaft eine Denkregel, die als „Occams Rasiermesser“ bekannt ist. Sie besagt, dass man stets der Theorie den Vorzug gibt, die mit den wenigsten zusätzlichen Annahmen auskommt. Oder anders ausgedrückt: Wenn man mit gesichertem Wissen etwas erklären kann, kann man auf zusätzliche Hypothesen verzichten.
Genau das trifft jedoch auf die Bestandsvermehrung des Schwarzwildes zu. Die ist nämlich mit dem stark gewachsenen Nahrungsangebot und dem günstigeren Klima bereits hinreichend und schlüssig erklärt. Auf die Geschichte vom Rauschzeit-Chaos kann man also getrost verzichten. Möglicherweise ist sie lediglich erfunden worden, um dem Jäger wieder einmal am Zeuge zu flicken. Und wir plappern sie den Jagdabschaffenwollern auch noch nach...
Ein Frage der Wahrscheinlichkeit
Schließlich muss man aber durchaus auch fragen, wie oft den überhaupt Leitbachen geschossen werden? Wenn von ihrer Rotte weg geschossene Leitbachen einen merklichen Einfluss auf das Fortpflanzungsverhalten der gesamten Population in einem größeren Gebiet haben sollen, müsste so etwas dort ständig passieren und nicht nur hin und wieder. Daher spielt wohl hier auch die Vorstellung gewisser Leute vom grüngewandeteten Unhold eine Rolle, der nichts anders im Sinn hat, als den lieben Tierlein schröcklich Ungemach zu bereiten. Und der sich daher auch hinsetzt und so lange wartet, bis er ausgerechnet eine Leitbache schießen kann, um damit sadistischer Weise die ganze Rotte ins Rauschzeit-Chaos zu stürzen.
... mit exzessivem Futter- und jetzt auch Energiemaisanbau für ständigen Nachschub
Tatsächlich weiß aber jeder Jäger – und wer als Nichtjäger mitreden will, sollte es auch wissen – dass man bei der Schwarzwildjagd vor allem junge Keiler erwischt. Das liegt daran, dass diese mit der Geschlechtsreife von den Bachen abgeschlagen werden und dann sozusagen als Jugend-Gangs durch die Ökologie vagabundieren. Dabei sind sie wesentlich unvorsichtiger als die alten Leitbachen, die ihre Rotten wesentlich heimlicher sein lassen. Vor allem weniger ausgebuffte Jäger werden daher kaum einmal etwas anderes vors Rohr bekommen als junge Keiler, denn die jungen Bachen, sind in den Rotten, die von den gewieften alten Weibern geführt werden und die man deswegen nur schwer in Anblick bekommt.
Genau das ist ja eines der Probleme bei der Bestandsreduktion beim Schwarzwild: Wenn der durchschnittliche Jäger eine Sau schießt, ist es wie gesagt meist so ein junger Keiler. Aus der Kochtopfperspektive und der der Waidgerechtigkeit kein Fehler, denn die Halbstarken liefern vorzügliches Wildbret und hinterlassen keine trauernde Familie. Natürlich macht ein Überläuferkeiler, der unser Herz erst im Revier und dann bei Tisch erfreut hat, auch keinen Schaden mehr. Aber sein Abschuss bremst eben die Populationsentwicklung nicht. Das Begattungsgeschäft, das er nicht mehr verrichten kann, erledigen seine Spezerln, die unserem Kraut und Lot entgangen sind, für ihn ohne weiteres und gerne mit.
Nun ist es eine Tatsache, dass wenn so eine Rotte kommt, wahrscheinlich die Leitbache das erste Stück ist, das man sieht. Das weiß aber auch jeder Jäger und wird den Finger gerade lassen. Zumal Leitbachen mit hoher Wahrscheinlichkeit auch führen, da Fruchtbarkeit ein wichtiges Kriterium für den sozialen Rang in der Rotte ist.
Ob so eine auftauchende Bache nun tatsächlich führt, weiß man aber auch nicht, solange sie das erste und zunächst einzige Schwein ist, das den Wurf überhaupt aus der Deckung streckt. Eine führende Bache zu schießen ist aber eine Straftat und deswegen bläut jeder Lehrprinz seinen Jungjägern ein, dass man keinesfalls nie und nimmer nicht unter gar keinen Umständen auf das erste Schwein schießt, das kommt. Zu behaupten, dass Jäger das aber doch haufenweise tun würden, ist wiederum eine Unterstellung, die, gegen einen einzelnen Jäger ausgesprochen, den Tatbestand der üblen Nachrede oder der böswilligen Verleumdung erfüllen würde.
Wenn tatsächlich überproportional viele Leitbachen umkommen, ist wohl wesentlich eher der Straßenverkehr schuld. Die Straße jagt bekanntlich das ganze Jahr und kennt kein Jagdgesetz und keine Waidgerechtigkeit. Und wenn die Leitbache als erstes kommt, kommt sie natürlich auch als erste unter die Räder. Wenn also das Märchen vom Rauschzeitchaos je stimmen sollte, wäre nicht der Jäger schuld, sondern der Verkehr. Da wird aber wohl weniger gerne darüber geredet, denn Auto fahren ja auch diejenigen, die sich mit Grausen vor jedem unserer Zunft abwenden – sich dann aber doch wieder umdrehen, um nämlich mit dem Finger auf ihn zu zeigen.
Fazit
Wie man sieht ist die Geschichte mit dem Rauschzeitchaos als Ursache des starken Populationswachstums beim Schwarzwild bei näherem Hinsehen nicht haltbar. Was man aber auch sieht: Es braucht annähernd vier meiner Manuskriptseiten, um das zu untersuchen und zu widerlegen, was ich eingangs in zwei Sätzen zitiert habe.
Das ist ein Effekt, der jedem versierten Demagogen bekannt ist, den bereits ein gewisser Herr Hitler in seinem Demagogen-Handbuch „Mein Kampf“ benutzt hat und der auch heute noch gerne angewendet wird: Man sucht sich eine griffige Behauptung als Lösung für ein Problem und erhebt sie zum Dogma. Da sich Lebenswirklichkeiten jedoch meist nicht in zwei, drei Sätzen zutreffend abhandeln lassen, muss derjenige, der so eine Parole widerlegen will, weit ausholen. Das interessiert jedoch dann keinen. Wer will sich schon mit komplexeren Zusammenhängen befassen oder gar selbst denken, wenn er doch bereits eine griffige, leicht verständliche und (scheinbar) plausible Lösung geliefert bekommen hat?
Also wird man den Jungjägern wohl auch weiterhin die fromme Mär von den gemeuchelten Leitbachen und dem Rauschzeit-Chaos erzählen...